Bernhard Furrer
UNTERIRDISCHE BAUTEN IM HISTORISCHEN BEREICH
EIN
GRUNDSATZPAPIER
ZUSAMMENFASSUNG
Je vollständiger
ein Denkmal auf uns gekommen ist, je authentischer also, desto größer ist sein
Zeugniswert für die Zeit seiner Entstehung. Die Glaubwürdigkeit ist nicht nur
abhängig von seiner auf den ersten Blick sichtbaren Erscheinung, sondern von
seiner ganzen materiellen Existenz, nicht nur von den Fassaden also, sondern
auch von seinem inneren Aufbau und seiner Umgebung und damit unmittelbar vom
Boden, auf dem es steht.
Die nachstehenden
Überlegungen zu unterirdischen Bauten im historischen Bereich leiten sich aus
dieser Grundeigenschaft, dem Wesen der Denkmäler selbst, ab. Aus solcher
grundlegender Optik ist festzuhalten, dass alle drei Grundformen des
unterirdischen Bauens im historischen Bereich abzulehnen sind: die
Unterkellerung von Baudenkmälern, die Unterhöhlung von historischen Plätzen
sowie diejenige historischer Parkanlagen und Gärten. Zunächst beeinträchtigen
solche unterirdischen Bauwerke durch die Trennung von Denkmal und historischem
Baugrund die Authentizität des Denkmals aufs Schwerste. Weiter sind sie eine
nie mehr rückgängig zu machende Maßnahme am Baudenkmal und gefährden die
Unversehrtheit des baulichen Bestandes. Längerfristig stellen sie zudem die
verträgliche Nutzung für die Zukunft in Frage und sie stören das Verhältnis der
Öffentlichkeit zum Denkmal damit das Denkmal selber gefährdend.
Die
Öffentlichkeit und die politischen Entscheidträger müssen sich im konkreten
Fall den Grundsatzfragen stellen, die unterirdische Bauten im historischen
Bereich aufwerfen. Sie müssen sich dabei bewusst sein, welch weitreichende und
letztlich unumkehrbaren Folgen solche Bauten haben.
Die Denkmalpf1ege-Fachstellen
werden im konkreten Fall ihre grundsätzlichen Bedenken gegenüber Unterkellerungen
von Baudenkmälern und Unterhöhlungen historischer Freiräume oder Gartenanlagen
unmissverständlich artikulieren; sie werden ihre Ablehnung im Einzelnen
begründen müssen. Sie werden Lösungen einfordern, auch selbst vorschlagen müssen,
welche den Kriterien einer denkmalverträglichen Übereinstimmung zwischen Gebäude
und Baugrund entsprechen. Es kann somit nicht ihre primäre Aufgabe sein, bei
einer möglichst verharmlosenden Gestaltung der sichtbaren Bauteile wie
Rampenabfahrten oder Treppenaufgängen mitzuwirken.
EINLEITUNG
Es gehört zu den
Aufgaben der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege, Stellung zu
grundsätzlichen Fragen und Entwicklungen der Denkmalpflege zu nehmen. Aus
Anlass mehrerer konkreter Fälle, die der Kommission zur Begutachtung vorgelegt
worden waren und gestützt auf ausgeführte und projektierte Beispiele aus der
ganzen Schweiz 1, hat sie sich mit den unterirdischen Bauten im
historischen Bereich vertieft auseinander-gesetzt 2.
Das vorliegende
Grundsatzpapier richtet sich an die verantwortlichen Politiker und
Politikerinnen, Planer und Planerinnen, aber auch an all diejenigen, welche die
Verantwortung für Denkmalpflege und Archäologie tragen.
Der frühere
Sonderfall des Bauens unter der Erdoberfläche ist zu einem Normalfall geworden.
Er wird auch in Bereichen, die von historischen Bauten geprägt sind, vielerorts
als normal und damit als unbedenklich angesehen, ohne dass vertiefte Überlegungen
zu den gedanklichen Grundlagen solcher Eingriffe und ihrer Auswirkungen angestellt
würden. In der Euphorie des Machbaren werden unter Baudenkmälern großräumige
technische Zentralen konzipiert 3, Einkaufsläden unter Altstadtplätzen
gebaut 4, Parkanlagen und Gärten für den Bau unterirdischer Auto- einstellhallen
benutzt 5; archäologische Komplexe verschwinden zu Gunsten
unterirdischer Bauvolumina 6.
Vordergründig sind
solche Vorgänge in der Regel leicht zu erklären. Ausgelöst werden die Eingriffe
in den Baugrund vorab durch den großen Nutzungsdruck: gegenüber von Hochbauten
versprechen unterirdisch angeordnete Bauvolumen oftmals eine Mehrausnutzung,
bessere Realisierungschancen und zuweilen auch finanzielle Vorteile 7.
Dies gilt besonders in intensiv genutzten Bereichen wie beispielsweise in
Altstädten.
Die Motivation für die
Erstellung unterirdischer Bauten liegt weiter im Bestreben, Maßnahmen oder
Elemente, die für die Nutzer technisch und funktionell unabdingbar zu sein
scheinen, nicht in Erscheinung treten zu lassen, sie zu verstecken. So sollen
die Autos unter Altstadtpflästerung oder Grünzeug verschwinden 8,
die WC-Anlage einer Kirche unter dem Chor untergebracht werden 9.
Dieses Verstecken des Unansehnlichen entspricht dem Wunsch nach einem
ungetrübten, heilen, für Bevölkerung und Touristen gleichermaßen intakten Bild
der Stadt.
Und zuletzt lassen es
die technischen Möglichkeiten und das Know-how der Baufachleute scheinbar zu,
zusätzliche Unterkellerungen auch heikler historischer Bauten ohne technische
Probleme ausführen zu können. Auch sind selbst große Erdbewegungen und
namentlich voluminöse Baugruben für unterirdische Bauten in kurzer Zeit durchführbar.
Hinter der unbekümmerten
Leichtigkeit solchen Vorgehens stehen indessen ernste Grundsatzfragen zum
Denkmal oder Denkmalbereich, zu ihrer Materialität, zu den langfristigen
Auswirkungen solcher Maßnahmen und letztlich zur Glaubwürdigkeit des Bestandes.
DEFINITION
Wenn in der
Folge von "Denkmälern" gesprochen wird, sind nicht bloß die
Baudenkmäler gemeint, diejenigen historischen Bauten also, denen auf Grund
ihres Zeugniswertes Denkmalcharakter eignet. Vielmehr sind die folgenden
Überlegungen auch anzuwenden auf die Freiräume im historischen Kontext, auf
Gassenräume, auf Höfe oder auf Plätze; sie bilden mit den umgebenden Gebäuden
als Ganzes ein Denkmal. Und weiter gehören auch die Park- und Gartendenkmäler
dazu - sie sind durch die Verbindung der Pflanzen mit dem Erdreich auf
besonders sinnfällige Weise von unterirdischen Bauten betroffen. In den "historischen
Bereichen" ist neben den Einzeldenkmalen stets auch an die zugehörige
Umgebung zu denken, ferner an größere historische Ensembles, Altstädte beispielsweise,
und an archäologische Stätten.
Die
nachstehenden Überlegungen sind in grundsätzlicher Art auf alle möglichen
Formen des unterirdischen Bauens im historischen Bereich anwendbar. Indessen
sollen sie nicht als starre Regeln missverstanden werden. Vielmehr gilt es im
konkreten Fall abzuwägen, ob durch eine - allenfalls örtlich beschränkte -
Unterbauung dem Denkmal insgesamt eine bessere, vielleicht die einzig denkbare
Überlebenschance eröffnet wird 10. Erfahrungsgemäß ist ein solcher
Zusammenhang höchst selten tatsächlich gegeben - häufig dagegen wird eine
Argumentation dieser Art vorgeschoben. Kommt es tatsächlich zu einer
Unterkellerung, dann ist auch die Frage zu beantworten, ob sie nicht so
ausgeführt werden soll, dass sie von außen erkennbar und damit ablesbar wird 11.
GRUNDLAGEN
Seit der Mitte des
19.Jahrhunderts hat die Denkmalpflege im theoretischen wie auch im praktischen
Bereich Kriterien für den Umgang mit Baudenkmälern entwickelt Sie haben
zumindest europaweit zu einem weitgehend etablierten Konsens geführt, der auch
in internationalen Charten umschrieben ist
Diesen
anerkannten Kriterien hat zweifellos auch das unterirdische Bauen in
historischen Bereichen zu genügen. Im Vordergrund stehen dabei die Fragen nach
den wesentlichen Denkmaleigenschaften, der Reversibilität von Maßnahmen am
Baudenkmal, dem Verhältnis zwischen dem Baudenkmal und seiner Umgebung sowie
nach der Unversehrtheit des baulichen Bestandes, der verträglichen Nutzung für
die Zukunft und dem Verhältnis der Öffentlichkeit zum Baudenkmal nach der
Durchführung einer Maßnahme. Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen
werden.
KRITERIEN ZUR BEURTEILUNG UND FOLGERUNGEN
Grundlage für
die unmittelbare Glaubwürdigkeit des Denkmals ist die Authentizität, seine
unversehrte materielle Existenz. Diese wiederum ist Voraussetzung für die
Zuwendung der Öffentlichkeit, die sich im Schutz und in der Pflege des Denkmals
äußert Diese Wechselwirkung bestimmt in hohem Maße die Überlebenschancen des
Denkmals.
Authentizität
und Glaubwürdigkeit beide hängen wesentlich vom Verhältnis des Denkmals zu
seinem Untergrund ab. Über Jahrhunderte schien dieses Verhältnis unveränderbar
zu sein. Fest gegründet, unverrückbar waren die Denkmäler mit dem Baugrund
verbunden 12. Dies hat sich ganz offensichtlich geändert.
Zu den
wesentlichen Eigenschaften eines Denkmals gehört - unter manch anderen – sein
Bezug zur Topographie, zu seiner physischen Umgebung und damit zum Baugrund,
auf dem es gebaut wurde. Die Wahl des Standortes gehörte - und gehört auch
heute - zu den wesentlichsten Entscheiden beim Bau eines Gebäudes. Geologische,
topographische, historische, ästhetische und städtebauliche Überlegungen waren
wichtige Gesichtspunkte für diese Wahl. Sie ist heute nachvollziehbar durch die
physische Verbindung des Denkmals mit dem Baugrund, genereller mit dem
historischen Untergrund. Er bildet im tatsächlichen, aber auch im übertragenen
Sinn den „tragenden Boden“ für das Denkmal. Durch Unterkellerungen und
Unterhöhlungen wird diese essenzielle Eigenschaft des Denkmals nachhaltig
gestört, sie wird gar zerstört l3.
Die heute
selbstverständliche Forderung nach der Reversibilität von Maßnahmen am
Baudenkmal ist bei unterirdischen Bauten praktisch nicht gegeben l4.
Einmal vollzogene Baumaßnahmen in diesem Bereich werden weder aus technischen
noch aus ökonomischen Gründen jemals rückgängig gemacht werden können. Der
Entscheid, den historischen Untergrund zu beanspruchen, ist faktisch
unumkehrbar. Wer aber würde bei einer anderen derart einschneidenden Maßnahme
am historischen Bauwerk einen endgültigen, nie mehr diskutierbaren Entscheid
unterstützen?
Die Frage nach
der Unversehrtheit des baulichen Bestands bedarf mehrerer
Überlegungsebenen. Zum einen: der archäologische Bestand, der im Boden der
historischen Stadt oder des Dorfkerns, aber auch an Fundorten abgegangener
Siedlungen erhalten, gewissermaßen eingelagert ist, gehört genauso wie die
aufgehenden Bauten zum Zeugnis-Bestand. Gleich wie für eine gotische Täferstube
oder für eine barocke Kirchenausstattung genügt es für archäologische Komplexe
nicht, eine Dokumentation und Erforschung zu verlangen, um dann die Entfernung
und damit die Zerstörung des Gesamtzusammenhanges zuzulassen. Nein, beim
oberirdischen Baudenkmal wie beim unterirdischen Fundkomplex ist ein solches
Vorgehen nur als Ultima Ratio zu erwägen, dann nämlich, wenn nachweislich
keinerlei Möglichkeit zur Erhaltung an Ort und Stelle offensteht 15.
Was für den
archäologischen Fundkomplex gilt, gilt auch für das einzelne Baudenkmal. Seine
unterirdischen Partien sind materiell überlieferte Denkmalteile, die wesentlich
zum Zeugnisumfang des Denkmals gehören. Die historischen Fundamente, auch der
von den Erbauern eines Gebäudes oder einer Stadt klug mit einbezogene Baugrund
sind konstruktive Bestandteile des Denkmals, die entscheidend zum Verständnis
seiner Entstehung und seiner späteren Biographie beitragen. Der Eingriff in
diese Teile ist ein Eingriff in die Integrität des Denkmals, unabhängig davon,
ob er ohne weiteres sichtbar ist oder nicht.
Selbst
unterirdische Bauten neben Baudenkmälern haben in nahezu allen Fällen direkte
Auswirkungen auf das Denkmal selber. Trotz der regelmäßig mit Nachdruck
vorgebrachten Beteuerungen der beteiligten Ingenieure, Architektinnen und
Bauunternehmer und ungeachtet der angewendeten Bautechnik hat das Abgraben von
Baugruben praktisch in allen Fällen weitreichende Folgen. Fundamentsenkungen,
Risse und Spalten im Mauerwerk, reduzierte BalkenaufIager wegen weichender
Mauern sind an der Tagesordnung. Bei Gewölbekonstruktionen kommt das
gefährliche Einsinken des Gewölbescheitels dazu. Solche Folgen werden oftmals
erst nach Jahren oder Jahrzehnten in ihrem vollen Umfang deutlich l6.
Unterirdisches Bauen im Bereich historischer Gebäude ist immer gleichbedeutend
mit einer unmittelbaren materiellen Gefährdung derselben, auch dann, wenn die
beteiligten Fachleute behaupten, die Sache millimetergenau im Griff zu haben.
Die Erfahrung zeigt drastisch ein anderes Bild.
In diesem
Zusammenhang muss auf eine weitere, seit langem bewährte Regel
denkmalpfIegerischer Arbeit hingewiesen werden. Mit der „Minimierung der
Eingriffe“ versucht sie, den teilweisen Erfolg zu suchen, wenn sich die
umfassende Umsetzung eines Grundsatzes als unrealisierbar erweist. Dies gilt
auch in der Frage von Unterkellerungen oder Unterhöhlungen. So kann es einen
großen Unterschied machen, ob eine großflächige unterirdische Ladenpassage oder
aber bloß eine Fußgängerunterführung gebaut wird. Es kann am historischen
Bauwerk wesentlich weniger Schaden entstehen, wenn anstatt einem zusätzlichen,
die ganze Fläche umfassenden KeIlergeschoß lediglich eine parzielle Abgrabung
eines bestimmten Bereichs vorgenommen wird, ohne dass die Fundamentmauern
tangiert werden.
Ein letzter
Punkt betrifft die baustatische Zukunftsprognose für das Denkmal. Was
wird geschehen, wenn der neue Unterbau einschneidend verändert werden soll?
Was, wenn dieser Unterbau neue Anforderungen erfüllen muss? Was endlich wird
das Schicksal des darüberstehenden Baudenkmals sein, wenn solche Fragen
anstehen? Wird die Öffentlichkeit den ausgehöhlten, oder eben unterhöhlten Bau
überhaupt noch als Denkmal anerkennen?
Die verträgliche
Nutzung für die Zukunft hat sich nach dem Baudenkmal selber, seiner
Geschichte und seinem Anspruch auf eine künftige Lebensdauer, die über die rein
ökonomische Betrachtungsweise hinausgeht, zu richten. Auch kommende
Generationen sollen sich das Baudenkmal in seiner historischen Authentizität
vergegenwärtigen können. Es muss daher der gängigen ökonomischen Verwertung als
Immobilie so weit entzogen werden, als dieser Anspruch beeinträchtigt wird.
Unterbauungen
von Baudenkmälern sind meistens Folge einer Nutzungsüberlastung. Diese hängt
damit zusammen, dass an das Denkmal zusätzliche funktionale und ökonomische
Forderungen gestellt werden, die es nicht erfüllen kann. Besonders bei zusammen
hängenden historischen Arealen, in denen eine größere Anzahl von Baudenkmälern
steht, können sie in ihrer Summierung groteske Formen annehmen 17.
Zusätzliche Unterkellerungen gehen zudem häufig einher mit einer
grundsätzlichen Änderung der Nutzungsart des Bauwerks, die es in seiner
Eigenart überfordern, so beispielsweise, wenn aus einigen innenstädtischen
Wohnhäusern ein Einkaufszentrum entstehen soll18. Der ökonomische
Verwertungsdruck zieht dann leicht die Forderung nach zusätzlichen
unterirdischen Räumen nach sich.
Als besonders
problematisch werden sich Unterbauungen oder Unterhöhlungen erweisen, wenn später
neue Vorstellungen zu Nutzung oder Gestaltung entwickelt werden sollen. Was ist
mit einer massiv betonierten Unterkellerung anzufangen, wenn sich die Nutzung
grundlegend ändert? Was soll mit den großen unterirdischen Flächen von Verkehrsbauwerken
geschehen, wenn Autos in einer der nächsten Generationen aus den historischen
Zentren fern gehalten werden oder vielleicht andere individuelle
Transportmittel zur Verfügung stehen werden? Wie soll eine neue Brunnenanlage
auf der Unterhöhlung Platz finden, wenn diese dem Gewicht nicht standhält, wie
ein Baum gepflanzt werden, wenn unter der Platzoberfläche nicht Humus, sondern
Leerraum ist? Mit Unterhöhlungen schränken wir die Möglichkeiten späterer
Generationen entscheidend ein, verunmöglichen ihnen die Wahl sinnvoller
Nutzungen und Gestaltungen.
Wir sind damit
bei dem am schwierigsten zu umschreibenden, wohl aber wichtigsten Punkt
angelangt, beim Verhältnis der Öffentlichkeit zum Denkmal 19.
Es ist allgemein anerkannt, dass zum Denkmal die ganze bisherige Biographie und
der gesamte diese Biographie begleitende materielle Bestand gehört. Wir haben
gesehen, dass zur Biographie der Denkmäler auch und besonders grundsätzlich ihr
Verhältnis zum Untergrund als historische Tatsache gehört.
Der
durchschnittliche Bürger als unbefangener Denkmalbetrachter erwartet, dass das
Denkmal entsprechend seinem Alter auf festem Grund und Boden, eben auf seinem
historischem Fundament stehe, er erwartet auch, dass der Altstadtplatz, auf dem
er geht, historischer Boden sei; dies gehört für ihn zu den Grundvoraussetzungen
einer glaubwürdigen Wirklichkeit. Wenn der Betrachter nun feststellt, dass
diese im tatsächlichen Sinn tragende Schicht des Denkmals fehlt, dann bricht
auch seine selbstverständlichste Denkmalerwartung ein. Er glaubt dem
historischen Objekt nicht mehr. Seine Bindung an den historischen Ort wird
dramatisch reduziert 20. Dieser tiefgreifende Vertrauensverlust des
Einzelnen zieht die schwindende Bereitschaft der Öffentlichkeit nach sich, für
das Über- leben des in seiner Authentizität, seiner glaubwürdigen Zeugenschaft
gestörten Baudenkmals einzustehen. Dieser Vorgang und seine Konsequenzen
sprechen klar gegen das Unterbauen oder das unterirdische Erweitern von
Denkmälern.
Die Aushöhlung des
historischen Bodens entspricht vom Grundsatz her genau der Auskernung eines
historischen Gebäudes 21. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
schien der Schutz der Fassaden ohne die dahinterliegenden Gebäudeteile ein
erfolgversprechendes Vorgehen für die Erhaltung des heilen Bildes von Einzeldenkmälern
und Altstadtbereichen zu sein 22. Seit einigen Jahrzehnten aber
stößt die Verlogenheit eines solchen Vorgangs bei der Bürgerschaft auf
erbitterten Widerstand. Die operettenhafte Kulisse der Fassade eines
ausgekernten Baudenkmals wird jedem auch nur halbwegs aufmerksamen Betrachter
spätestens dann offensichtlich werden, wenn er den Hauseingang durchschreitet.
Genauso wird die Unglaubwürdigkeit des unterhöhlten Platzes oder der
unterkellerten Parkanlage dann für jedermann deutlich, wenn er den Abgang zur
Parkgarage benutzt und die große unter dem Platz liegende Halle sieht 23.
Da mag die Deckenkonstruktion noch so geschickt kamufliert, noch so großzügig
humusiert, in das zuvor bestehende Gefälle gelegt, begrünt oder mit
Pflastersteinen bedeckt und mit Bäumen in Bodenwannen bestückt worden sein.
Die Beziehung
der Bürger zu ihrem Lebens-Ort, ihre Verwurzelung braucht den festen Boden der
historischen Realität, den Stadtboden, den Park- und Gartenboden. Eine
Unterhöhlung aber beraubt diesen der dreidimensionalen Realität, sie macht ihn
zur dünnen Schicht, zur Kulisse. Den Benützenden von Stadt und Dorf, von Park
und Garten werden falsche Tatsachen vorgegaukelt. Die Zweiheit von festem Grund
und angrenzenden Hochbauten wird durch die Aushöhlung unglaubwürdig.
Aus an diesen
Überlegungen sind Unterkellerungen von Baudenkmälern und Unterhöhlungen
historischer Freiräume oder Gartenanlagen grundsätzlich abzulehnen.
Nicht der äußere
Schein, sondern die tatsächliche Übereinstimmung des Baudenkmals mit seinem
geistigen und materiellen Fundament wird langfristig für das Denkmal in seiner
materiellen Existenz und für seine Glaubwürdigkeit und damit für seine
Überlebenschancen entscheidend sein.
ANMERKUNGEN
1 Auch aus den umliegenden Ländern sind der
Kommission zahlreiche Beispiele bekannt.
2 Präsentationen und Besichtigung
entsprechender Beispiele in der Sitzung vom 6. und 7. Juli 2000 im Kanton
Tessin, Diskussion und Verabschiedung des vorliegenden Grundsatzpapiers in
ihren Sitzungen vom 14. September 2000 und vom 30. Januar 2001.
3 Beispiel: die technischen Anlagen des
Kornhauses Burgdorf (BE).
4 Pavia, Italien.
5 Beispiel: die Einstellhalle angrenzend an
den Stadtpark in Winterthur (ZH).
6 Beispiel: die Befestigungsanlagen der
sogenannten Zweiten Stadterweiterung in Bern, die mit Ausnahme von
Restbeständen dem unterirdischen Bahnhofzugang und dem zugehörigen
Einkaufzentrum zu weichen hatten.
7 Vereinzelt mögen Sicherheitsgründe - Magazinierung von heiklen Gütern, namentlich von Kulturgütern - der Auslöser sein für das Errichten unterirdischer Anlagen.
8 Beispiel: die geplante Einstellhalle unter
dem zur gestalteten Gesamtanlage gehörenden Park des Goetheanum in Dornach
(SO).
9 Beispiel: Die Kirche St. Martin in Vevey (VD).
10 Dies kann beispielsweise vorliegen, wenn
bei einer vorgegebenen, absolut standortgebundenen Nutzung ein neues Bedürfnis
zu einem massiven Eingriff in die oberirdische historische Substanz führen
würde. In einem solchen Fall ist zwischen den entstehenden Verlusten
abzuwägen.
11 In seltenen Einzelfällen kann es zu einer lesbareren, die Eigenheiten des städtischen Raums und der angrenzenden historischen Gebäude besser wahrenden Lösung führen, wenn eine neue unterirdische Anlage gegen außen als solche kenntlich gestaltet wird. Beispiele: Autosilo Piazza del Sole in Bellinzona (TI) und Kulturgüterschutzraum des Kunst- und Naturmuseums St. Gallen.
12 Die in früheren Jahrhunderten zuweilen
praktizierten Verschiebungen von zur Fahrhabe gehörenden kleinerer Holzbauten
(Speicher u. ä.) oder die namentlich im 17. und 18. jahrhundert vorgenommenen
Kellervergrößerungen griffen nicht substanziell in das Verhältnis des Bauwerks
zum Untergrund ein. Es waren kleinmaßstäbliche, mit der Tradition verbundene
Anpassungen, ausgeführt in den vorbestehenden Bautechniken.
13 In gleichem Sinn wird auch eine
Translozierung eines Baudenkmals dessen unerlässlichen Bezug zum Baugrund und
zu seiner angestammten Umgebung zerstören. Sie darf nur dann in Betracht
gezogen werden, wenn auf keine andere Art und Weise die Erhaltung gewährleistet
werden kann.
14 Es ist
heute kaum noch umstritten, dass die Reversibilität denkmalpflegerischer
Maßnahmen kaum je eine vollständige sein kann. Immerhin aber sind im Grad der
WiederhersteIlbarkeit große Unterschiede erkennbar.
15 Wenn aber eine Zerstörung eines
Fundkomplexes unvermeidbar ist, muss seine sorgfältige Ergrabung, Erforschung
und Dokumentation im Gesamtzusammenhang selbstverständliche Pflicht sein. Es
ist daran zu erinnern, dass eine solche Arbeit in der Regel bedeutende
finanzielle Aufwendungen erfordert und nur dann zufriedenstellend ausgeführt
werden kann, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht.
t6 Solche Spätfolgen dramatischen Umfangs
konnten an der christkatholischen Kirche St. Peter und Paul in Bern beobachtet
werden.
17 Beispiel: der Stadtpark und seine
Umgebung in St. Gallen.
18 Beispiel: der vor 20 Jahren gebaute
Migros-Markt in der Marktgasse in Bern.
19 Dieser Punkt schließt die Überlegungen zu
den bisherigen Fragen mit ein, geht aber über sie hinaus.
20 Umgekehrt verliert der historische Ort
durch die Aufhebung seiner materiellen Gebundenheit seine eigentliche
Definition.
21 Im
bundesdeutschen Sprachgebrauch „Aushöhlung“.
22 Unter dem Stichwort des „façadisme" wird namentlich in Frankreich über diese Form der Denkmalzerstörung heftig debattiert.
23 Wer die Abfahrts- und Auffahrtsrampen von
Tiefgaragen benutzt, wird ein ähnliches Erlebnis haben.
ÖZKD 4/2001 S.502 ff |